Was hat man zu erwarten?
Uwe Schimank (DGS)
Es gibt Studienfächer, in denen man sich den Stoff eines bestimmten Teilgebiets aneignen kann, indem man das eine, überall zugrunde gelegte Standard-Lehrbuch durcharbeitet. Dies sind Fächer, die einen hohen Grad an Kanonisierung – wie Juristen es nennen, eine „herrschende Meinung“ – herausgebildet haben. Das gibt es in der Soziologie nirgends – und die Konsequenz ist, dass man keinen Lese- und Pauk-Minimalismus betreiben kann. In der Soziologie muss man lesen und lesen … und weiter lesen; und man muss sich seinen Weg durch die Literatur noch dazu eigenständig suchen, auch wenn man natürlich am Anfang noch viele Lektüretipps von den Lehrenden erhält. Wer nicht gern liest und keine Widersprüche zwischen dem, was er in dem einen Text, und dem, was er anderswo zum selben Sachverhalt liest, aushalten kann, ist in der Soziologie fehl am Platz.
Lesen heißt übrigens auch: englische Texte lesen. Im Laufe des Studiums nimmt der Anteil englischsprachiger Literatur stetig zu; in manchen Themenfeldern sind auch noch Französisch oder Spanisch nützlich, von anderen Sprachen ganz zu schweigen.
Womit man ebenfalls, schon im ersten Semester, konfrontiert wird, ist Statistik. Darum kommt man in der Soziologie nicht herum. Aber auch mathematisch Unbegabte können mit einigem Bemühen Statistik lernen. Selber rechnen muss man dann sowieso kaum. Dafür gibt es Statistik-Software. Doch man sollte eine Vorstellung davon haben, was die Zahlen besagen, und die Güte bestimmter Berechnungen beurteilen können. Wer sich dem verweigert, kann soziologisch vielfach nicht mitreden.
Statistik ist allerdings nur die eine, sogenannte „quantitative“ Seite des soziologischen Methodenspektrums. Die andere Seite bildet ein großes Arsenal an „qualitativen“ Methoden, die ihre Daten nicht in Zahlen pressen, sondern z.B. als aufgezeichnete Gespräche dokumentieren. Oft meinen Studierende, die sich mit Statistik etwas schwer tun, die Interpretation solcher „qualitativer“ Daten sei ja viel einfacher, weil das nur Einfühlungsvermögen erfordere. Doch methodisch kontrollierte systematische Gesprächsinterpretationen sind genauso anspruchsvoll wie die kunstgerechte Handhabung statistischer Verfahren.
Viel lesen und dabei zahlreiche theoretische Perspektiven kennenlernen – die Empirie genau beobachten und die so erhobenen Daten methodisch auswerten: Das läuft insgesamt darauf hinaus, dass einem nach und nach sämtliche vorgefassten Meinungen über die soziale Welt ausgetrieben werden. Solche Meinungen zu haben hat freilich lebenspraktisch etwas ungemein Erleichterndes: Man weiß Bescheid und ist handlungsfähig. Soziologie zu treiben heißt unweigerlich, die eigene Handlungsfähigkeit zu untergraben – und wer nicht ertragen kann, dass ihm, noch dazu von ihm selbst, der sichere Boden unter den Füssen weggezogen wird, sollte Abstand von der Soziologie halten. Auch wenn sich Soziologen inzwischen eine Vielfalt an Berufsperspektiven bietet: In diesem grundsätzlicheren Sinne bedeutet Soziologie lebenspraktisch ein klares Handicap.